Kalaallit Nunaat - das Land der Menschen
Was für ein erstaunlicher Name für die grösste Insel der Welt, die zu über 84% mit Eis bedeckt ist!
Ich sitze im Flugzeug von Island kurz vor Ankunft nach Kulusuk: das Surren der Propeller in den Ohren, die Weite des Polareises unter den Augen, hin und wieder den einen oder anderen Eisberg, viele Bergspitze, viel Land, kaum Menschensiedlungen. Wir landen auf einer Schotterpiste, steigen aus dem Flugzeug, sind angekommen in einem Land, das schwierig zu beschreiben ist, weil man es erleben, fühlen, riechen und schmecken muss.
Ich nehme einen tiefen Atemzug und bin wieder angekommen in «meinem» faszinierenden Grönland. Warum liebe ich Grönland?
Grönland - ein Land der Gegensätze
2008 fragte mich Martin Fischer, ob ich mit berg-welt-Gästen im Sommer Grönland bereisen möchte. Hmm, Grönland, ich war noch nie vorher dort, doch dieses Land faszinierte mich sofort, denn ich witterte eine Prise Abenteuer. Seit dieser Anfrage bin ich mehrmals im Sommer wie im Winter mit berg-welt-Gästen in Grönland unterwegs gewesen. Grönland-Reisen brauchen eine hohe Flexibilität, denn die eigentliche «Meisterin oder Reiseleiterin» ist die Natur. Gegebenheiten von Wind & Wetter, der Polarsituation, von Ebbe & Flut sowie der Präsenz von Eisbären, die das Programm im Detail bestimmen. In Grönland erleben unsere Gäste autark, wie mächtig und rau die Natur ist. Gleichzeitig staunen wir immer wieder über die Zartheit der Natur in dieser rauen Umgebung.
Ein Naturvolk und mein Traum vom Eisbär
Die Flora ist wie bei uns in den höheren Alpenregionen - sonderbar für uns, diese Flora auf Meereshöhe anzutreffen. Die auffälligste Blume ist das arktische Weidenröschen. In Ostgrönland gibt es zudem keine üblichen Bäume, die Birken wachsen nicht in die Höhe, sondern schlängeln sich dem Boden nah.
Die Inuit sind ein Naturvolk und Pflanzen waren ein Teil der Nahrung. Gert, knapp 60 Jahre alt, zeigte uns nach einer spektakulären Bootsfahrt auf dem Meer den Ort, wo er in einem Erdhaus aufwuchs. Um sein Haus herum wuchs gelber Rosenwurz. Dieser Rosenwurz wurde in seiner Kindheit immer gegessen. Gelber Rosenwurz ist eine Heilpflanze und stärkt die Abwehrkräfte. Es schmeckte säuerlich gut. Gert hat in seiner Kindheit mit seiner Grossmutter noch Haie gejagt. Zu sehen, wo er aufgewachsen ist, zu hören, was er alles erlebt hat und welche Entwicklung er in so kurzer Zeit erlebt hat, war sehr berührend.
Das wohl bekannteste wild vorkommende Tier ist der Eisbär. Die Eisbär-Population in Ostgrönland nimmt zu. Seit 15 Jahren leite ich Reisen nach Ostgrönland, seit 6 Jahren trage ich auf der Reise eine Waffe (Pumpaction von rund 4 kg), um uns in einer Notwehr-Situation zu verteidigen, doch noch nie habe ich einen Eisbären gesehen.
In meinen Träumen begegne ich hin und wieder einem Eisbären:
Ich sitze mit meiner Gruppe in einem Boot auf dem Eismeer und wir sehen an der Küste ein prächtiges Tier dem Strand entlang laufen. Wie gebannt sitzen wir alle im Boot und sehen aus sicherer Entfernung auf dieses prächtige Tier. Demütig werden wir ganz still und geniessen den Moment…
Wer weiss, vielleicht darf ich einen solchen Moment noch erleben.
Das Jagen tief in der Kultur verankert
Inuit sind ursprünglich Jäger, nicht Fischer. Das Jagen von Walen, Robben und Eisbären garantiert für die Inuits seit 4000 Jahren das Überleben. An der Ostküste von Grönland liegt von Ende Oktober bis Ende Juni Polareis (zu Eis gefrorenes Meerwasser). In dieser Zeit kann kein Versorgungsschiff von Dänemark in Tasiilaq anlegen. Während diesen acht Monaten müssen die Inuits jagen und fischen, um zu überleben. Ende Juni, wenn das erste Versorgungsschiff von Dänemark anlegt, gibt es ein grosses Fest!
Unterdessen dürfen nur noch lizenzierte Jäger Eisbären erlegen und die Menge ist kontingentiert. Verwertet wird jeweils das ganze Tier. Was sie nicht selbst essen, verfüttern sie ihren Hunden. Die Tierfelle werden im Dorf getrocknet und das Eisbärenfleisch zu besonderen Zwecken wie zum Beispiel Hochzeiten gekocht.
Wie schmeckt Eisbärfleisch? Ich wurde einmal mit einer Reisegruppe von Michael, einem Inuk aus Tasiilaq, zu sich nach Hause eingeladen. Normalerweise gibt es ein leckeres Fischgericht. Voller Stolz und mit einem breiten Lachen stellte er die Platte mit Eisbärfleisch auf den Tisch. Wir warteten auf das Besteck. Eine Zeit lang passierte nichts. Plötzlich kam Michaels Frau und nahm uns die Platte wieder weg. Etwas stimmte nicht. Da ich ihre Sprache nicht spreche, versuchte ich das Missverständnis mit Handzeichen, Charme und ein paar Brocken Englisch zu klären. So lernten wir, dass die Inuit das Eisbärenfleisch von Hand essen. Wir bekamen dann doch noch die Gelegenheit, das Fleisch zu degustieren und, naja, um ganz ehrlich zu sein: mir schmeckte es nicht. Für mich hat es zuviel «Fisch- oder Robbengeschmack». Vielleicht lag es auch an der Vorstellung, welches Tier ich da ass…
Die Inuit - ein wortkarges Volk
Auf meinen Reisen empfinde ich die Zusammenarbeit mit den Einheimischen als grosse Bereicherung. Dabei lerne ich sehr viel von ihnen. Die Einheimischen sind die Experten in ihrem Land und haben vielfach eine andere Art, Herausforderungen zu lösen, als wir Schweizer. Dabei geht es um viel Vertrauen. Ich habe die Inuit ins Herz geschlossen. Ich konnte bereichernde Bekanntschaften machen und Beziehungen aufbauen, obwohl ich kein dänisch oder ostgrönländisch spreche und sie eher introvertiert und wortkarg sind.
Da ist zum Beispiel Ulrika, welche uns in ihrem Haus in Kummiut für vier Tage ein zu Hause bot. Oder Anda, der Knochenschnitzer aus Kulusuk (die ostgrönländische Kultur ist tief in Mythen und Legenden verwurzelt, die Knochenschnitzereien sind ein Merkmal dafür). Weil unser Flugzeug nach Reykjavik wegen einem Sturm nicht pünktlich zurückfliegen konnte, stellte Anda uns sein Wohnzimmer und seine Küche zur Verfügung. Hotelstrukturen oder viele Ausweichmöglichkeiten gibt es in Ost-Grönland nicht, dafür immer wieder Lösungen, die einmalige Erlebnisse bieten.
Da ist Tobias, einer der bekanntesten Jäger im Land. Er ist um die 60 Jahre alt, sehr herzlich und hat einen schalkhaften Ausdruck im Gesicht. Tobias wuchs in einem Erdhaus auf, ging nie zur Schule, spricht trotzdem Englisch, ist sehr intelligent und arbeitet zuverlässig.
Bei unserer Ankunft in Tasiilaq beziehen wir unser Haus und ich lege mich kurz hin, um einen Powerschlaf zu machen. Auf einmal weckt mit eine Reiseteilnehmerin und meint, da stehe ein fremder Mann in der Küche. Freudig stelle ich fest, dass es Tobias ist. Wir umarmen uns, trinken Kaffee zusammen und essen Kekse. Dann geht er wieder. Gesprochen hat er während dieser Begegnung vielleicht drei Sätze.
Kurze Zeit später stehen wieder zwei Männer in der Küche. Einer davon ist Julius. Er spricht sehr gut Englisch und will einfach «Hallo» sagen.
Julius redet deutlich mehr als Tobias - beide Männer sind Hauptdarsteller im Kinofilm A Polar Year mit Bildern vom Dorf Tiniteqilaaq, absolut sehenswert! Im Film nimmt ein dänischer Lehrer eine Stelle im ländlichen Grönland an, wo er sich bemüht, sich den Einheimischen anzupassen.
Zum Trailer:
In Ostgrönland gibt es keine Überalterung. 50% der Bevölkerung ist unter 20 Jahre jung. In den unteren Schulstufen gehen die Kinder in Tinit in die Schule. Danach müssen sie nach Tasiilaq. Der «Schulweg» ist ca. 37km lang! Im Sommer heisst dies, ein paar Stunden Bootsfahrt, im Winter ist der Weg nur mit Hundeschlitten oder Schneetöff zu machen. Wollen sie höhere oder weitere Schulstufen besuchen, müssen die Kinder in die Hauptstadt Nuuk an der Westküste. Da liegen rund 700 km Eis dazwischen. Oder nach Dänemark... Welch' schwierige Entscheidungen für diese Familien, welche einen engen Zusammenhalt pflegen!
Zukunft
In der grönländischen Sprache gibt es das Wort «Zukunft» nicht. Unvorstellbar was dies für eine Auswirkung auf das Leben hat, wenn es das Wort in der Sprache nicht gibt. Die Inuit leben in der Gegenwart. Einmal frage ich unseren Bootsführer Aili: «Denkst du, morgen wird das Wetter besser, damit wir Kulusuk und den Rückflug nach Reykjavik erreichen?» Aili hebt den Zeigefinger in die Höhe und zuckt mit den Schultern... Er lässt mich spüren: Wie soll ich das wissen? Heute ist heute und morgen ist morgen, wir werden sehen.
Ost-Grönland ist nur zwei Flugstunden von Island entfernt und doch in keiner Weise vergleichbar. Kultur und Landschaft wirken wie von einem anderen Planeten. Dominiert vom Inlandeis und unfassbar steilen Bergketten bietet Ost-Grönland für 3500 Menschen ein Zuhause. Jede Reise nach Ost-Grönland ist ein Abenteuer und einzigartig, lässt mich voll und ganz in der Gegenwart leben und zeigt, wie klein wir als Menschen sind.
Ich sitze vor meinem Zelt am Johan Peterson Fjord, schaue dem Inlandeis zu, höre die knirschenden Eisberge und versuche, die Stimmung der hellen Nacht für immer in meinem Herzen zu speichern. Nun werde auch ich wortkarg :-), es gibt Momente, in denen Worte stören, schwierig erklärbar - nur erlebbar. Danke Kalaallit Nunaat!
Reiseleiterin Daniela Ogi
Februar 2023